Ein neuer Ansatz für die regionale Geschichtsforschung

Die Erforschung regionaler Geschichte bietet über die reine Ereignisgeschichte hinaus vielfältige Möglichkeiten, Fragen von Mentalität, Identität und Gruppendynamiken zu untersuchen. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft findet sich eben nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene, sondern sehr viel intensiver im Lokalen und Regionalen – oft bestärkt durch Familienbande, gemeinsame Traditionen oder vermeintlich kollektiv geteilte Geschichte. Die historische Stereotypenforschung bietet hier einen neuen Blickwinkel auf eben solche regionalen Identitätsbildungsprozesse.

von Jessica Holzhausen

Die Rolle von Stereotypen im regionalen Kontext sind – ganz ähnlich wie regionale Identitäten als historisches Konstrukt an sich – bislang nur unzureichend untersucht. Zwar zeigte die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten zunehmendes Interesse an Mythen, Geschichtsnarrativen und den damit verbundenen Identitäten, doch lag der Fokus dabei vor allem auf der nationalen Ebene und Nationsbildungsprozessen. Man denke hierbei zum Beispiel an Herfried Münklers Untersuchung zu den Mythen der Deutschen. Dabei gehen die meisten dieser Ansätze auf Pierre Noras „Lieux des Memoires“ zurück. Der französische Historiker ging davon aus, dass sich das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe an bestimmten „Erinnerungsorten“ manifestiert. Dabei ist Erinnerungsort nicht ausschließlich geographisch zu verstehen. Mit dem Begriff „Erinnerungsort“ können auch mythische Gestalten, historische Ereignisse, Kunstwerke oder beispielsweise Bücher gemeint sein, die Teil der kollektiven, historischen Erinnerungskultur werden. Pierre Nora ging es in seiner Forschung dabei um die französische Nation als Träger einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Entsprechend wurde das Konzept in der Folge meist auf andere nationalstaatliche Identitätsbildungsprozesse angewendet.

Welche Rolle aber spielt die (Re-) Interpretation historischer Ereignisse für regionale oder lokale Identitäten? Und welche Erinnerungsorte und Stereotypen, also Fremd- und Eigenbilder, bilden sich dabei heraus? Welche Rolle spielen historisch geprägte Stereotype in diesem sehr viel kleineren geographischen Kontext? Grundsätzlich spiegeln regionale Narrative und Stereotypen die regionale Identität wider und können damit als Untersuchungsgegenstand Aufschluss darüber geben, wie Menschen in bestimmten Regionen sich als Gruppe definieren, welche Charaktereigenschaften sie sich selbst und andere ihnen zuschreiben und wo sie dabei eine Verbindung ziehen zur eigenen Geschichte oder zu bestimmten historisch aufgeladenen Orten.

Abgrenzung nach innen und außen

Stereotype dienen auch im Regionalen sowohl zur Selbstbestätigung als Gruppe (Autostereotype), als auch zur Abgrenzung gegenüber anderen (Heterostereotype). Dass regionale und lokale Identitäten nicht nur eine Selbstdefinition nach Innen brauchen, sondern eben auch eine Abgrenzung nach außen, zeigen prominente Beispiele: Man denke hier an die vermeintlichen Städterivalitäten zwischen Köln und Düsseldorf oder Leipzig als Handelsstadt und Dresden als Residenzstadt. Diese Städterivalität manifestiert sich nicht nur darin, dass die jeweilige Stadt sich selbst als herausragend oder besonders definiert, sondern dies vor allem tun, indem sie der konkurrierenden Stadt einen ähnlichen Status abspricht. Nicht immer ist das vollständig ernst gemeint. Trotzdem findet es Niederschlag in der Populärkultur und wird von Unternehmen erfolgreich werbetechnisch genutzt, wie beispielsweise eine Kölsch-Biermarke gezeigt hat, die mit dem Werbespruch warb: „Bevor es Alt wird“, ein Seitenhieb auf die Düsseldorfer Altbiertradition.

Ähnliche Rivalitäten finden sich historisch beispielsweise zwischen Preußen und Bayern, zwischen Nord- und Süddeutschen, hier und jenseits des Weißwurstäquators, zwischen Ossis und Wessis. Für die Pfälzer beginnt der „Osten“ jenseits des Rheins, verbunden mit dem Auto- und Heterostereotyp, dass hinter dem Rhein nicht nur der Weinbau, sondern auch die (Hoch-)Kultur endet. Diese Abgrenzungen erfolgt also nicht nur auf geographischer Ebene, sondern vor allem auf emotionaler – beispielsweise durch die Zuschreibung bestimmter Charaktereigenschaften und äußerer Merkmale. Die Bayern tragen Lederhosen, die Norddeutschen an der niederländischen Grenze den gelben Ostfriesennerz. Ostfriesen sind maulfaul. Südlich von Hannover gilt schon ein laues Lüftchen als Sturm… Diese vermeintliche, stereotype Rivalität spiegelt sich auch in der Populärkultur, wie Witzen und Karikaturen, die bestimmten Gruppen bestimmte Eigenschaften zuschreiben: „Wie viele Ostfriesen braucht man um eine Glühbirne zu wechseln? 100. Einer hält die Glühbirne und 99 drehen das Haus.“

Ein grundsätzliches Problem bei der Beschäftigung mit Stereotypen in regionalen Geschichtsbildern ist, dass der Begriff der „Region“ häufig nicht ausreichend definiert ist. Daher ist es notwendig, die „Region“ von anderen kleineren und größeren geographischen Einheiten abzugrenzen. Worin zum Beispiel besteht der Unterschied zwischen „regional“ und „lokal“? Häufig genug werden diese Begriffe recht wahllos benutzt, weshalb ein erster Schritt in der Untersuchung regionaler Geschichtsbilder und damit verbundener Stereotype zunächst eine klarere Definition der Begriffe erfordert. Hier ist die Geschichtsforschung gefragt.

Die regionale Verankerung historischer Personen und Ereignisse

Viele historische Figuren und Ereignisse und damit verbundene Geschichtsbilder beziehen sich bereits auf einen entsprechenden, historisch aufgeladenen Ort. Ein prominentes Beispiel, das vor allem im 19. Jahrhundert identitätsstiftende Bedeutung erlangte, ist die mit dem Kyffhäuser verbundene Barbarossa-Legende: In der Höhle unterm Kyffhäuser schlafe Kaiser Friedrich Barbarossa auf einem Stuhl aus Elfenbein, den Kopf auf den Marmortisch gebettet. Sein feuerroter Bart ist durch den Tisch gewachsen. Alle 100 Jahre öffnet er die Augen und blinzelt, ob die Raben als Zeichen der Zwietracht in deutschen Landen noch immer um den Berg fliegen. Erst wenn der Bart ganz um den Tisch gewachsen ist und ein mächtiger Adler die Raben vertreibt, wird der Kaiser mit seinem Gefolge erwachen. Im Zuge der Reichsgründung wurde diese Legende auf Kaiser Wilhelm I. übertragen, der deutsche Kaiser im Kyffhäuser-Denkmal mythisch überhöht und als wiedererstandener Barbarossa zelebriert.

Kyffhäuserdenkmal um 1900

Während dieser Reichsgründungsmythos mit Ende des Kaiserreichs seine identitätsstiftende Wirkung verlor, blieb die regionale Verankerung bestehen – schon allein, weil der Kyffhäuser bis heute eine viel beworbene touristische Attraktion ist und das Denkmal durch seine erhöhte Lage das Landschaftsbild bereits von weitem prägt. In der Region hat die Bedeutung und die Geschichte demnach länger überdauert, als dies überregional der Fall war. Es wäre einer Untersuchung wert, zu prüfen inwieweit damit bis heute möglicherweise auch regionale identitätsstiftende Faktoren verbunden sind und welche Stereotypen womöglich in der Geschichtsvermittlung transportiert wurden und werden.

Ähnlich prominent in der Landschaft steht auch das Hermannsdenkmal in der Nähe von Hiddensen, das 1875 feierlich eingeweiht wurde. Es erinnert an den Cheruskerfürsten Arminius und die Niederlage der Römer im Teutoburger Wald im 9. Jahrhundert. Vielmehr aber ist das Denkmal aber Ausdruck eines Sehnens nach nationalstaatlicher Einigung und deutscher Identität, deren Ursprünge man im Zuge der napoleonischen Kriege und den darauf folgenden Einigungsbestrebungen in der germanischen Vergangenheit zu finden glaubte. Der Rückgriff in die (germanische) Geschichte war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Motiv bei der Bildung nationalstaatlicher Mythen.

Thomas Wolf, www.foto-tw.de (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hermannsdenkmal_2015.jpg), „Hermannsdenkmal 2015“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode

Dass derartige historische Ereignisse aus der altertümlichen, ebenso wie mittelalterlichen Geschichte über die Nationalstaatsidee hinaus einen regionalen Bezug hatten, zeigt sich beispielsweise in der Interpretation des Sachsenfürsten Widukinds und der vermeintlich bei Verden von Karl dem Großen zu Tausenden hingeschlachteten Sachsen. Dieses Ereignis ist eng verbunden mit der Bildung einer niedersächsischen – und damit regionalen – Identität. Dies manifestierte sich unter anderem im sogenannten Niedersachsenlied, komponiert vermutlich Mitte der 1920er Jahre:

„Auf blühend roter Heide
Starben einst vieltausend Mann
Für Niedersachsens Treue
Traf sie des Franken Bann.
Viel tausend Brüder fielen
Von des Henkers Hand.
Viele tausend Brüder
Für ihr Niedersachsenland.
Das war’n die Niedersachsen,
Sturmfest und erdverwachsen,
Heil Herzog Widukinds Stamm!“

Auch Städte schaffen und schufen eine Selbstdefinition durch den Bezug auf historische Figuren und Ereignisse: Aachen als Stadt Karls des Großen, Speyer als Grabstätte der Salier-Kaiser und Magdeburg betont die enge Verbindung zu den Ottonen.

Gemeinsame Geschichte als Wurzel regionaler Identität

Um ein Beispiel zu geben für die Rolle von Geschichtsbildern in regionalen Identitätsbildungsprozessen, ebenso wie für die Bewahrung und Verteidigung einer bestehenden regionalen Identität, sei auf die Stedinger-Bauern als Identitätsfiguren in der Wesermarsch zwischen Bremen und Oldenburg verwiesen. An ihnen wird nicht nur deutlich, wie historische Figuren über verschiedene Zeiträume und politische Systeme hinweg als Identitätsstifter dienen können, sondern auch, dass sich dabei verschiedene Identitäten durchaus überschneiden können. Im frühen 13. Jahrhundert hatten die Stedinger Bauern die Abgabenzahlung an den Bremer Erzbischof verweigert und sich ihm in mehreren kriegerischen Auseinandersetzung widersetzt, bis sie 1234 in der Schlacht von Altenesch von einem Kreuzfahrerheer vernichtend geschlagen wurden. Als Ketzer gebrandmarkt war die Überlieferung der folgenden Jahrhunderte zunächst von einem Negativbild geprägt, bis der Stedinger-Mythos im 19. Jahrhundert schließlich eine Umdeutung und Politisierung erfuhr – mit überregionalem Bezug, aber verstärkt regionaler Verankerung.

Die Kerngeschichte orientierte sich an den historischen Ereignissen und blieb über die komplette Zeit bestehen, die Interpretation aber wandelte sich und passte sich den politischen Gegebenheiten und Entwicklungen an. So interpretierten Anhänger der 1848er Revolution die Stedinger als frühe Republikaner, die sich entgegen der geltenden Herrschaftsstrukturen eine republikanisch geprägte Selbstverwaltung gaben. Nach Scheitern der Revolution ließ sich durch die Erzählung eines derartigen historischen Stoffes die nun verbotene republikanisch-demokratische Botschaft weiter verbreiten. Die Deutung aber änderte sich im späteren 19. Jahrhundert: So dienten die Stedinger dann unter anderem in einer Dichtung Heinrich von Treitschkes als Symbolfiguren im antikatholischen Kulturkampf. Eine Botschaft, die sich durch den Stedinger-Mythos leicht verbreiten ließ, hatten sich diese doch zuvorderst nicht einem weltlichen Herrscher widersetzt, sondern einem katholischen Kirchenfürsten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg verschob sich die Deutung dann immer stärker hin zu heimatverherrlichenden und rassenideologischen Deutungen, die ihren Höhepunkt in der nationalsozialistischen Aneignung des Stedinger-Mythos fanden. Unter anderem durch eine Freilichtinszenierung massentauglich gemacht, wurden die Stedinger in den Dienst einer Blut-und-Boden-Ideologie gestellt, die aus den Stedingern die rassischen Vorfahren der heutigen Marschbewohner machten und die Herkunft aus Blut und Boden mit bestimmten Charaktereigenschaften verbanden.

Die von den Nationalsozialisten errichtete Freilichtbühne „Stedingsehre“ in Bookholzberg bei Oldenburg, Foto: Jessica Holzhausen

Über diese Aneignungen hinaus, die im Kontext der Reichspolitik und überregionalen Entwicklung zu sehen sind, entwickelte sich aber auch eine starke regionale Verankerung, die sich vor allem im ausgehenden 19. Jahrhundert im Zuge von Heimatgedanken und Heimatbewegung manifestierte. Im Kampf gegen Ebbe und Flut sah man in den Stedingern einen Menschenschlag geboren, dessen herausragende Charaktereigenschaften und Persönlichkeit in den modernen Stedingern weiterlebte. Hier findet sich ein ganz klares Autostereotyp des Marschbewohners: Neben einem festen Charakter, der geprägt ist vom ständigen Kampf mit den Naturgewalten, findet sich auch eine historisch begründete Freiheitsidee. Und diese wiederum wurde dazu genutzt, um sich gegen Einflussnahme von außen zu wehren. Darunter fällt neben der Ablehnung preußischer Oberherrschaft im Großherzogtum Oldenburg auch die spätere Ablehnung des Niedersachsentums. So setzte man dem vor allem von Hannover aus geprägten niedersächsischen Heimatgedanken im ausgehenden 19. Jahrhundert eine eigene, regionale Identität gegenüber. Die Stedinger dienten dabei erneut als historische Begründung, um sich einer als fremd empfundenen Oberherrschaft und Ordnungsidee zu widersetzen. Der Selbstwahrnehmung einer Andersartigkeit im Autostereotyp steht hier selbstverständlich auch eine Heterostereotypisierung gegenüber, die anderen niedersächsischen Regionen einen ähnliche Charakterfestigkeit etc. abspricht.

Regionale Identitäten, so die weiter zu untersuchende These, haben eine größere Beständigkeit, da sie anders als Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert weniger starken politisch-gesellschaftlichen Erschütterungen ausgesetzt waren. Politische Veränderungen auf nationalstaatlicher Ebene beeinflussen tatsächlich auch regionale politische Strukturen, doch zerstören sie meist nicht bestehende Netzwerke und regionale Identitäten, die sich – so die These – als sehr viel beständiger gegenüber der Einflussnahme von außen erwiesen haben. Dies ist in einer tiefergehenden Untersuchung zu überprüfen.

Die Rolle von Regionen wächst im Zuge der Globalisierung

Die Debatte einer regionalen Identität und damit verbundenen (Geschichts-) Stereotypen hat in einer zunehmend unübersichtlichen, international orientierten Gesellschaft eine zunehmend größere Relevanz erlangt. Man denke hier beispielsweise an die Debatte um ein Europa der Regionen, statt eines Europa der Nationalstaaten. Befürworter einer stärkeren Fokussierung auf die Region, verweisen unter anderem darauf, dass die Idee eines Nationalstaates ein relativ junges Konstrukt ist, verglichen mit der langen historischen Kontinuität regionaler Identitäten. Ulrike Guérot bezieht sich in einem Gespräch mit der taz (http://www.taz.de/!166796/) auf genau diesen Aspekt:

„Ich gebe den Leuten ihre Heimat zurück.“
Die Heimat? Sie meint: Ein Europa, das aufgebaut ist aus vielen kleinen Heimaten, müsste den Bürgern doch näher sein als dieses komische Gesamtdeutschland; Europa bestehe erst seit relativ kurzer Zeit aus Nationalstaaten, erklärt sie, viel länger dagegen aus „etwa fünfzig bis sechzig alten, historischen Regionen: Savoyen, Flandern, Venetien, Bayern, Brabant, Emilia-Romagna, Bretagne, Tirol, Katalonien – alle mit etwa sieben bis fünfzehn Millionen Einwohnern“. Auch in traditionsreichen Städten wie Augsburg, Hamburg, Köln oder Düsseldorf wurzele die Identität der Bürger stärker als in den nationalstaatlichen Konstrukten Deutschland, Italien, Frankreich, Niederlande und Belgien.

Die Europäische Union trägt der Besonderheit einzelnen Regionen bereits heute durch die Europäischen Metropolregionen (EMR) Rechnung.

Das regionale Selbstverständnis und die Abgrenzung nach außen kann ganz konkrete politische und soziale Effekte haben, die die Wahrnehmung und Akzeptanz politischer Entscheidungen beeinflussen. Daher ist eine Beschäftigung mit einem historisch gewachsenen Selbstverständnis nicht nur rückblickend von Interesse, sondern bietet Interpretationsmuster für aktuelle Entwicklungen.

Das kurze Beispiel der Stedinger hat gezeigt, dass Menschen nicht nur individuell durch ihre Herkunft aus einer bestimmten Gegend geprägt sind, sondern dass sich zudem eine kollektive, regionale Identität finden lässt. Sie ist ähnlich wie für die Nationalstaaten untersucht, durch bestimmte Charakteristika geprägt und durch einen Bezug auf die Geschichte untermauert. Die Rolle von Auto- und Heterostereotypen ist hier aber in der Tat noch nicht ausreichend untersucht. Gerade für Regionalhistoriker findet sich damit in der historischen Stereotypenforschung ein Ansatz, der neue Perspektiven und Forschungsmöglichkeiten eröffnet.

 

 

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