von Eva Hahn

Walter Lippmann wird oft als Gründungsvater der Stereotypenforschung bezeichnet; so finden wir etwa in der heute allgegenwärtigen Wikipedia unter seinem Namen u.a. die beiden folgenden Sätze: „Heute noch wegweisend und auf Universitätsliteraturlisten zu finden ist seine Schrift über Die öffentliche Meinung (public opinion) aus dem Jahre 1922. Sie war bahnbrechend für die Stereotypenforschung.“[1] Doch fand sein Verständnis des Begriffs Stereotyp bisher kaum Echo. Im einschlägigen Wikipedia-Artikel wird der Begriff Stereotyp etwa folgenderweise erläutert:

„Ein Stereotyp […] ist eine im Alltagswissen präsente Beschreibung von Personen oder Gruppen, die einprägsam und bildhaft ist und einen als typisch behaupteten Sachverhalt vereinfacht auf diese bezieht. Stereotype sind gleichzeitig relativ starre, überindividuell geltende beziehungsweise weit verbreitete Vorstellungsbilder.“[2]

Auch hier wird Lippmann die herausragende Rolle in der Geschichte der Stereotypenforschung zugeschrieben (konkret heißt es diesmal: „Eingeführt wurde der Begriff 1922 von Walter Lippmann. Seine Arbeit Die öffentliche Meinung (Public Opinion) war bahnbrechend für die Stereotypenforschung.“). Doch wird auch hier sein Stereotyp-Begriff nicht erläutert, wenn man von ein paar Zitaten aus der Sekundärliteratur älteren Datums absieht (d.h. aus Büchern, die in den Jahren 1967 oder 1972 veröffentlicht wurden).[3] Angesichts einer derartigen Oberflächlichkeit in der Rezeption von Lippmanns Ideen soll im folgenden sein Stereotyp-Begriff und sein in der Tat bemerkenswerter und inspirativer Beitrag zur Stereotypenforschung vorgestellt werden.

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Als im Jahre 2018 Lippmanns oben genanntes Buch Die öffentliche Meinung auf Deutsch erschien,[4] formulierte Paul Schreyer seine Erkenntnisse aus der Lektüre von Lippmanns Texten über den Stereotyp-Begriff in einem heute gängigen Jargon so:

„Was Lippmann mit ‚Stereotyp‘ und ‚Pseudoumwelt‘ meint, wird heute oft als ‚Frame‘ bezeichnet. Gemeint ist ein vereinfachender Deutungsrahmen, ein großer, erklärender Zusammenhang, in den ein Ereignis gestellt wird, eine Brille, durch die man die Welt betrachtet, oft im Tunnelblick. Wo so ein ‚Frame‘ einmal durch kritisches Denken durchbrochen wird, spricht Lippmann bildhaft von der ‚Ermordung einer schönen Theorie durch eine Bande brutaler Fakten‘, was man selbst dann als ‚Schmerz der Fehlanpassung‘ erlebe.“[5]

Aus diesen Zeilen geht hervor, dass Walter Lippmanns den Stereotyp-Begriff offensichtlich im breiteren Sinn verwendete, als heute üblich. Sein Verständnis des Begriffs hat nicht nur mit Personengruppen und kollektiven Zuschreibungen, Emotionen oder Urteilen zu tun, sondern mit einem allgemeinen Problem der menschlichen Wahrnehmung, d.h. mit der Art, wie Menschen auf ihre Umwelt blicken. Den soeben von Paul Schreyer erwähnten „Tunnelblick“ finden wir im genannten Buch von Walter Lippmann so erklärt:

„Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, sondern definieren erst und schauen dann. In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat.“[6]

Auf diese allgemeine menschliche Erfahrung wird heutzutage relativ häufig hingewiesen, aber meist im Kontext des Themas fake news, als handle es sich um eine Erklärung dessen, warum sich falsche oder vermeintlich falsche Informationen im Internet verbreiten. Lippmanns Aufmerksamkeit richtete sich dagegen auf subtilere Überlegungen:

„Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen unserer Sicht der Dinge und den Fakten, aber es ist oft ein wunderlicher Zusammenhang. […] Bei ungeschulter Beobachtung greifen wir erkennbare Zeichen aus der Umgebung heraus. Diese Zeichen stehen für Vorstellungen, und diese Vorstellungen füllen wir aus unserem Vorrat an Bildern auf. Wir sehen nicht so sehr gerade diesen Menschen und jenen Sonnenuntergang, wir bemerken stattdessen nur, dass das Ding ein Mann oder ein Sonnenuntergang ist, und danach sehen wir an solchen Gegenständen hauptsächlich das, wovon unser Kopf bereits voll ist.“[7]

Lippmann ging in seinen Überlegungen noch weiter und versuchte zu zeigen, warum Menschen oft sehr stark an bestimmten Frames und Vorurteilen hängen und sie mit viel Energie gegen Kritik und Andersdenkende oft sogar angriffslustig verteidigen. Darüber hinaus beschäftigten ihn Fragen nach der Rolle der Stereotypen in der Gesellschaft sowie nach einem vernunftgeleiteten Umgang mit ihnen. Er analysierte nicht nur einzelne konkrete Stereotypen, sondern interessierte sich für den breiten Kontext der menschlichen Wahrnehmungen und öffentlichen Diskurse.

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Wenn wir uns Lippmanns Erläuterungen zu Stereotypen genauer anschauen, stellen wir rasch fest, dass seine angeblich bahnbrechenden Überlegungen nur ein Kapitel jenes oft erwähnten, 376 Seiten dicken Buches aus dem Jahre 1922 betreffen. Kein Wunder, dass das Wort Stereotyp nicht einmal im Titel seines Buches vorkommt – das heißt nämlich Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird.[8] Schon daraus geht hervor, dass wir bei Walter Lippmann einem breiteren und breiter kontextualisierten Stereotyp-Begriff begegnen, als es heutzutage im Sinne des Stereotyps als einer personen- bzw. gruppenbezogenen Zuschreibung von kollektiven Eigenschaften üblich ist. Lippmann sieht Stereotypen keineswegs primär als Beschreibungen von Personen-Gruppen, sondern als vereinfachende Schablonen, die für unsere Orientierung in der Welt unabdingbar sind und auf die wir nicht verzichten können.

In Lippmanns Augen müssen wir den Entstehungszusammenhang der Stereotypen in der Tatsache suchen, dass Menschen den größten Teil der Wirklichkeit nicht über ihre eigenen Sinne erfahren können:

„Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden. Wir sind nicht dafür ausgerüstet, es mit so viel Subtilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen zu können. Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einem einfacheren Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können.“[9]

Daraus ergibt es sich, dass wir unsere Wahrnehmungen nicht als eine Beziehung zwischen uns und unserer Umwelt betrachten dürfen, sondern sie als eine Dreieckbeziehungen begreifen müssen, als eine „Dreieckbeziehung zwischen dem Schauplatz, dem Bild des Menschen von diesem Schauplatz und der Reaktion der Menschen auf dieses Bild, die sich wiederum selbst auf dem Schauplatz ereignet“.[10]

Walter Lippmann verwarf die gängige Vorstellung, dass Menschen ihre Umwelt einfach wahrnehmen und entsprechend reagieren, sondern richtete seine und unsere Aufmerksamkeit auf die zwischen einem Menschen und der Umwelt stehende sog. Pseudoumwelt, die sich jeder von uns als ein subjektiv voreingenommenes und vereinfachtes Bild der Welt im Kopf schafft und darauf in seinem Handeln reagiert. Unser Verhalten sei daher keine Reaktion auf die reale Welt, sondern auf unsere eigene mentale „Pseudoumwelt“, und Stereotypen bilden in Lippmanns Augen eine Art Grundsteine und Hauptsäulen einer jeden derartigen Pseudoumwelt in unseren Köpfen. In diesem Bild liegt der Schwerpunkt dessen, was Lippmann interessierte, oder mit seinen Worten:

„Hier liegt also der Schlüssel zu unserer Untersuchung. Wir werden behaupten, dass alles was der Mensch tut, nicht auf unmittelbarem und sicherem Wissen beruht, sondern auf Bildern, die er sich selber geschaffen hat oder die man ihm gegeben hat. […] Die Art und Weise, wie der Mensch sich die Welt vorstellt, wird in jedem einzelnen Augenblick darüber bestimmen, was er tut.“[11]

An welchen Beispielen untersuchte Lippmann nun seine Stereotypen? Den üblichen Stereotypen-Beispielen als personen- und gruppenbezogenen Zuschreibungen von kollektiven Eigenschaften und Urteilen begegnen wir nur in gelegentlichen summarischen Bemerkungen, wie z.B. in der folgenden Erinnerung an die allgegenwärtige menschliche Erfahrung: Einem fremden Menschen gegenüber stehend, erinnerte uns Walter Lippmann, sehen wir sofort

„ein Merkmal, das einen wohlbekannten Typus kennzeichnet, und füllen den Rest des Bildes mittels der Stereotypen, die wir in unserem Köpfen herumtragen. Zum Beispiel: Er ist ein Agitator […] Oder: Er ist Intellektueller. Er ist Plutokrat. Er ist Ausländer. Er ist ‚Südeuropäer‘. Er stammt aus Back Bay. Er ist Harvard-Absolvent. Welch ein Unterschied zu der Feststellung: Er ist ein Yale-Absolvent! Er ist Berufssoldat. Er war auf der Militärakademie von West Point.“[12]

Weitaus ausführlichere Passagen widmete Lippmann jedoch anderen Stereotypen: Da lesen wir seine Erläuterungen über Aristoteles und die antike Sklaverei, anderswo über die moderne Volkswirtschaftslehre. Am Beispiel der US-Verfassung analysierte er das ihr zugrunde liegende Menschenbild als ein Stereotyp, anderswo begegnen wir den deutschen Berichten über die belgischen Priester als Volksverhetzer im Ersten Weltkrieg. Relativ viel Aufmerksamkeit widmete er den gängigen Bildern des Kapitalismus und Sozialismus sowie den ihnen zugrunde liegenden stereotypen Annahmen über das Proletariat oder die Arbeiterklasse. All dies zeigt die breite Reichweite des Stereotyp-Begriffs von Walter Lippmann, aber auch seinen Blick und Sinn für allerlei unterschiedliche und sehr subtil wirkende Stereotypen in allen Sphären unseres gesellschaftlich-politischen Lebens. Er wies auf komplexe Widersprüche zwischen gängigen Stereotypen, die so grundlegende und hoch aktuelle Themen betreffen wie zum Beispiel den Demokratie-Begriff.

„Für die politischen Denker von Rang – von Plato und Aristoteles über Machiavelli und Hobbes bis zu den demokratischen Theoretikern – hat sich die Spekulation um den ichbezogenen Menschen gedreht, der mit Hilfe von ein paar Bildern die ganze Welt in seinem Kopf projizieren musste.“[13]

Das demokratische Ideal, wie es Jefferson formte, bestand aus einer idealen Umgebung und einer auserwählten Klasse, aber es wurde „zum politischen Evangelium und lieferte die Stereotypen, durch die die Amerikaner aller Parteien die Politik betrachten“, meinte Lippmann und schlußfolgerte,

„dass die öffentlichen Meinungen einer Gemeinschaft über die äußere Welt hauptsächlich in ein paar stereotypisierten Bildern bestand; sie waren in einem Modell angeordnet, das von ihren Gesetze- und Moralkodizes abgeleitet und von dem Gefühl angetrieben wurde, das nur lokale Erfahrungen kannte“.[14]

Aber er wies auch auf die sich verändernden gesellschaftlichen Kontexte hin und die sich infolge des Wachstums von Informationen im öffentlichen Raum daraus ergebende Desorientierung sowohl unter Politikern wie auch unter ihren Wählern hin:

„Die demokratische Theorie befindet sich in einem ständigen Konflikt zwischen Theorie und Praxis, weil sie nicht zugibt, dass ich-bezogene Meinungen nicht ausreichen, um eine gute Regierung zu gewährleisten.“[15]

Darin sah er seinen wichtigsten Impuls, sich mit Stereotypen zu beschäftigen:

„In keiner uns vorstellbaren Zeit besteht die Aussicht, dass die ganze unsichtbare Umwelt allen Menschen so klar sein wird, dass sie spontan zu vernünftigen öffentlichen Meinungen zum Gesamtkomplex des Regierungsgeschäfts gelangen werden.“[16]

Stereotypen in diesem breiten Sinne des Wortes bilden in Lippmanns Augen als unvermeidliche Orientierungshilfe die Hauptsäulen unserer Identitäten und führen in einer freien pluralistischen Gesellschaft notwendigerweise zu schwerwiegenden Konflikten. Daher widmete Lippmann große Aufmerksamkeit der Wirkung von Stereotypen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens ihrer Wirkung für einzelne Individuen, und zweitens ihrer Wirkung in der Gesellschaft.

Zum ersten Punkt beschrieb Lippmann in der ihm eigenen bildhaft anschaulichen Weise die Rolle der Stereotypen als Identitätsträger:

„Neben der Vermeidung von Anstrengung gibt es einen weiteren Grund, aus dem wir uns so oft auch dann an unsere Stereotypen halten, wenn wir eigentlich nach einer neutraleren Sicht streben könnten. Die Stereotypensysteme stellen vielleicht den Kern unserer persönlichen Gepflogenheiten und den Schutz unserer gesellschaftlichen Stellung dar.

Sie sind ein geordnetes, mehr oder minder beständiges Weltbild, dem sich unsere Gewohnheiten, unser Geschmack, unsere Fähigkeiten, unser Trost und unsere Hoffnungen angepasst haben. Sie bieten vielleicht kein vollständiges Weltbild, aber sie sind das Bild einer möglichen Welt, auf das wir uns eingestellt haben. In dieser Welt haben Menschen und Dinge ihren wohlbekannten Platz und verhalten sich so, wie man es erwartet. Dort fühlen wir uns zu Hause. Dort passen wir hin. Wir gehören dazu. Dort wissen wir Bescheid. Dort finden wir den Zauber des Vertrauten, Normalen, Verlässlichen; seine Spuren und Gestalten sind genau dort, wo wir sie zu finden gewohnt sind. Und obwohl wir viel aufgegeben haben, was uns gereizt haben mag, ehe wir uns in diese Gussform hineinzwängten, sitzt sie nun, sobald wir einmal fest drinstehen, so behaglich wie ein alter Schuh.“[17]

Es sei daher kein Wunder, dass uns jede Störung der Stereotypen wie „ein Angriff auf die Grundfeste des Universums“ vorkommt:

„Es ist ein Angriff auf die Grundfeste unseres Universums, und wo große Dinge auf dem Spiel stehen, geben wir nicht gerne zu, dass es einen Unterschied zwischen unserem und dem Universum gibt. Eine Welt, in der die von uns geachteten Personen sich als unwürdig erweisen und die von uns verachteten als edel, ist nervenzermürbend. Dort herrscht Anarchie, wo unsere Rangordnung nicht die einzig mögliche ist.“[18]

Zur Erläuterung der Wirkung von Stereotypen in der Gesellschaft fokussierte Walter Lippmann auf die politischen Aspekte. Das ergibt sich aus seiner Beobachtung der brisanten konfliktogenen Aspekte der Stereotypen, die sich aus der Starrheit mentaler Schablonen einerseits und der Vielfalt und dem permanenten Wandel der humanen Welt andererseits ergeben. Die

„Weltanschauung ist eine mehr oder minder gegliederte Reihe von geistigen Bildern zur Beschreibung der unsichtbaren Welt. Aber nicht nur zur Beschreibung, sondern auch zur Beurteilung. Daher sind die Stereotypen mit Präferenzen angereichert, von Zuneigungen oder Abneigungen durchdrungen, mit Befürchtungen, Lustgefühlen, starken Wünschen, Stolz und Hoffnungen verbunden. Was immer die Stereotype aufruft, wird mit dem dazu gehörigen Gefühl beurteilt. […] Weder Gerechtigkeit noch Gnade oder Wahrheit haben Anteil an einem solchen Urteil, denn das Urteil ist der Beweisführung vorausgegangen.“[19]

Walter Lippmann zeigte ausführlich, welch eine große Rolle Stereotypen in allen unseren politischen Konflikten spielen. Dabei stützte er sich etwa auf die schon erwähnten Beispiele von Stereotypen über das Proletariat bzw. die Kapitalisten, oder veranschaulichte es am Beispiel des allerorts gängigen Begriffs „Fortschritt“ und dessen stereotyper Gleichsetzung mit Begriffen wie technologischer Fortschritt, Wirtschaftswachstum und steigender Wohlstand der Gesellschaft.

Bei der Beschreibung der Folgen von Stereotypen für das gesellschaftliche und politische Leben sparte Lippmann nicht mit Kritik. Dennoch sollten wir nicht versuchen, die Stereotypen einfach loszuwerden, zu überwinden oder uns um eine stereotypenfreie Welt zu bemühen. Unsere Aufmerksamkeit sollten wir nur dem Umgang mit ihnen widmen. Als Ausweg aus derartigen Konflikten schlug Lippmann vor allem Toleranz und kritisches Denken vor. Das seien die besten Mittel zur Zivilisierung von Stereotypen. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Aufforderung zum selbstkritischen Denken eines jeden von uns, inklusive der Stereotypenforscher:

„Nur wenn wir die Gewohnheit haben, unsere Meinungen als eine partielle Erfahrung zu erkennen, die wir durch unsere Stereotypen sehen, werden wir gegen unsere Gegner wirklich tolerant werden. Ohne diese Gewohnheit setzen wir unsere eigene Sicht absolut und halten folglich jeden Widerspruch für verräterisch. Denn während die Menschen einer ‚Frage‘ gerne zwei Seiten konzedieren, billigen sie diese zwei Seiten nicht dem zu, was sie für ‚Tatsachen‘ halten. Und sie nehmen das erst nach langer kritischer Erziehung an, wenn sie sich vollauf bewusst geworden sind, wie subjektiv und aus zweiter Hand die Wahrnehmung ihrer sozialen Gegebenheiten ist.“[20]

Walter Lippmann setzte seine Hoffnungen keineswegs auf das Bekämpfen von Stereotypen, sondern auf wachsendes Problembewußtsein im Umgang mit ihnen. Dabei schenkte er viel Aufmerksamkeit den Hindernissen, die einer derartigen Aufklärung im Wege stehen, wie z.B. dem Desinteresse vieler Menschen an selbstkritischer Reflexion, allerlei materiellen und politischen Interessen, dem Konformismus oder einer einfachen blinden Rechthaberei.

Eine Welt ohne Stereotypen konnte sich Walter Lippmann auf keinen Fall vorstellen, und die Stereotypenforscher sollten gerade dieser seiner Überlegung besondere Aufmerksamkeit schenken: Die Autoren der untersuchten Stereotypen sollten nicht denunziert oder verunglimpft werden, man solle sich vielmehr um ein wohlwollendes Verstehen ihrer Weltbilder bemühen:

„Doch ist ein Volk ohne Vorurteile, ein Volk mit völlig neutraler Haltung, in jeder erdenklichen Zivilisation so unvorstellbar, dass auf einem solchen Ideal kein Erziehungsplan basieren könnte. Vorurteile können bloßgestellt, verkleinert und verfeinert werden, aber solange wie endliche Menschen sich mit einer nur kurzen schulischen Vorbereitung auf eine ungeheuer vielschichtige Zivilisation begnügen müssen, schleppen sie deren Bilder mit sich herum und haben Vorurteile. Der Wert ihres Denkens und Handelns wird davon abhängen, ob diese Vorurteile freundschaftlich sind, freundlich gegenüber anderen Menschen, anderen Ideen, ob sie Liebe für das bewirken, was als eindeutig gut empfunden wird, statt Hass auf das, was in ihrer Vision vom Guten nicht enthalten ist.“[21]

Zusammenfassend gesagt können wir den Stereotyp-Begriff von Walter Lippmann als eine Aufforderung verstehen, die Stereotypen nicht einfach an den Pranger zu stellen. Vielmehr gehe es darum, unsere Aufmerksamkeit dem Umgang mit ihnen zu widmen – und damit auch den Praktiken sowie dem praktischen Nutzens der Stereotypenforschung.


 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Lippmann#cite_ref-7 (Zugriff 27.9.2019)

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Stereotyp (Zugriff 26.9.2019)

[3] Franz W. Dröge: Publizistik und Vorurteil, Verlag Regensberg, Münster 1967, S. 134; Reinhold Bergler, Bernd Six: Stereotype und Vorurteile. In: Carl F. Graumann (Hrsg.): Sozialpsychologie, Band 7, 2. Halbband, Verlag für Psychologie, Göttingen 1972. Zitiert nach: Dörte Weber: Geschlechterkonstruktion und Sozialpsychologie. Theoretisches Modell und Analyse in Studien zum Pflegeberuf. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, S. 115; Elliot Aronson, Timothy D. Wilson, Robin M. Akert: Sozialpsychologie. Pearson Studium – Psychologie, München 2004.

[4] Hier wurde die neueste deutschsprachige Auflage des Buches von 2018 verwendet; zuvor ist das Buch 1964 und als Reprint 1990 erschienen, vgl. Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird. Mit einer Einführung von Walter Ötsch und Silja Graupe, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2018, im folgenden zitiert: Lippmann 2018.

[5] Paul Schreyer: Die Macht der Symbole. Ist eine Politik möglich, die das Volk nicht mit manipulativen Vereinfachungen lenkt?, in: Rubikon 31.7.2018, zit. nach https://www.rubikon.news/artikel/die-macht-der-symbole (Zugriff 20. 7. 2019).

[6] Lippmann 2018 S. 110.

[7] Lippmann 2018, S. 115.

[8] Lippmann 2018.

[9] Lippmann 2018, S. 65.

[10] Ebenda.

[11] Lippmann 2018, S.72f.

[12] Lippmann 2018, S. 116.

[13] Lippmann 2918, S. 239.

[14] Lippmann 2018, s. 248.

[15] Lippmann 2018, S. 273

[16] Lippmann 2018, S. 276

[17] Lippmann 2018, s. 120

[18] Lippmann 2018, S. 120f.

[19] Lippmann 2018, S. 138.

[20] Lippmann 2018, S. 143f.

[21] Lippmann 2018, S. 138f.