Anmerkungen zum Bild der AfD als „Partei der Russlanddeutschen“ aus Sicht der historischen Stereotypenforschung

von Hans-Christian Petersen

 

Die „Russlanddeutschen“ erfahren in der deutschen Öffentlichkeit seit zwei Jahren eine Aufmerksamkeit wie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr – und dies häufig aus wenig erfreulichem Anlass. Im Januar 2016 führte der vermeintliche „Fall Lisa“ dazu, dass erstmals Menschen, die seit den 1990er Jahren aus dem postsowjetischen Raum in die Bundesrepublik emigriert waren, öffentlich in Erscheinung traten: Wegen der vermeintlichen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Flüchtlinge demonstrierten sie als eine der größten Migrationsgruppen Deutschlands gegen die neuen, heutigen Migrant*innen. Inzwischen sind es die Wahlerfolge der AfD, die dafür sorgen, dass das russlanddeutsche Thema bis auf weiteres auf der politischen und öffentlichen Agenda bleiben wird. Damit bekommt, so ließe sich argumentieren, eine der Mehrheitsgesellschaft bis dato weitgehend unbekannte Bevölkerungsgruppe endlich die gebotene Aufmerksamkeit. So gibt es nun beispielsweise in Gestalt der Online-Dossiers der Bundeszentrale für politische Bildung aktuelle und fundierte Informationen über ein komplexes Thema, das auch in der Forschung lange Zeit vom völkischen Narrativ der Russlanddeutschen als einem „Volk auf dem Weg“ dominiert wurde. Zugleich führt erhöhte Aufmerksamkeit jedoch nicht automatisch zu mehr Differenzierung. Die Berichterstattung über „Russlanddeutsche als Wahlhelfer der AfD“ reißt neue Wunden auf und trägt wenig zur Lösung der bestehenden Probleme bei.

Aus Sicht der historischen Stereotypenforschug betrachtet, wird klar: Stereotyp ist an dieser Debatte so einiges, sowohl in der Berichterstattung über ‚die‘ Russlanddeutschen als auch beim Versuch der AfD, die (Spät-)Aussiedler*innen für ihre Ziele zu gewinnen.

Doch trifft es überhaupt zu, dass Russlanddeutsche bei der letzten Bundestagswahl massenweise der AfD ihre Stimme gegeben haben? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage im Sinne einer direkten Kausalkette gibt es nicht und kann es auch nicht geben, da aus gutem Grund keine Daten erhoben werden, mit denen sich die Stimmabgabe individuell oder kollektiv zuordnen ließe. Dementsprechend kann es auch nicht um Kausalität gehen, sondern lediglich um Korrelationen – also etwa darum, ob sich ein Zusammenhang zwischen markanten AfD-Wahlerfolgen und einer hohen Zahl russlanddeutscher Bewohner*innen in einem bestimmten Wahlbezirk feststellen lässt. Und darum, ob vielleicht eine spezifische sozioökonomische Struktur hierbei eine Rolle spielen könnte. Nun liegen die Bundestagswahlen noch nicht allzu lange zurück, so dass es sich bei den Analysen noch um „work in progress“ handelt. Was sich zum jetzigen Zeitpunkt sagen lässt: Ja, es gibt eine häufig auftretende Korrelation zwischen AfD-Ergebnissen und einem großen Anteil an (Spät-)Aussiedler*innen in der Bevölkerung. Und zweitens kommt diese Korrelation vor allem dort zum Tragen, wo die Mehrheit der Menschen in prekären Verhältnissen lebt, mit Teilzeitjobs und unsicheren Perspektiven für die Zukunft (Panagiotidis/Doerschler 2017). Letzteres ist kein spezifisch russlanddeutsches Phänomen, sondern deckt sich mit den Ergebnissen, die die Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer in ihrer Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ erhoben hat: Je größer die Angst vor dem eigenen beruflichen und sozialen Abstieg, desto schärfer die Abgrenzung gegen ‚die da unten‘ – einem Sozialdarwinismus, der von der AfD bedient wird.

Damit soll nicht gesagt sein, dass es keine ‚spezifisch russlanddeutsche‘ Komponente bei dieser Thematik gäbe – nach dem, was wir bisher wissen, scheint es sie zu geben. Über die Gründe für diese AfD-Affinität muss dringend geredet werden, um dem weiteren Vormarsch der neuen-alten Rechten Einhalt zu gebieten. Nur sollte diese Debatte gerade angesichts der Brisanz des Themas möglichst sachlich und vorurteilsfrei geführt werden – und dies ist bisher nur bedingt der Fall. Schlagzeilen wie „Rechtsruck in ‚Klein Moskau‘“ oder „Alternative für Russlanddeutschland“ knüpfen an traditionsreiche Stereotype über ‚den Osten‘ an, der seit der Frühen Neuzeit im deutschen Diskurs immer wieder als ‚wild‘, ‚fremd‘ und ‚rückständig‘ imaginiert wurde. Es lässt sich unschwer erahnen, welche Wirkung solche Zuschreibungen auf die Betroffenen haben (die im Falle ihrer Anerkennung als (Spät-)aussiedler*in immerhin die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen bekommen), zumal sie solche Slogans noch aus den 1990er Jahren kennen, als etwa Oskar Lafontaine Stimmung gegen die „Zuwanderer“ aus Osteuropa machte, die den ‚richtigen Deutschen‘ die Arbeitsplätze wegnehmen würden.

Problematisch ist zudem die Vorstellung einer Einheitlichkeit ‚der‘ Russlanddeutschen, die es weder historisch gab noch heute gibt: Die AfD ist nicht die beliebteste Partei ‚der‘ Russlanddeutschen. Das ist nach wie vor die CDU/CSU. Differenziert man nach Generationen, dann lassen sich bei den Wahlpräferenzen der jüngeren Russlanddeutschen keine Unterschiede zur Mehrheitsbevölkerung mehr feststellen, und zahlreiche (Spät-)aussiedler*innen engagieren sich seit Jahren in lokalen Flüchtlingsinitiativen. Es wäre also schon einmal etwas gewonnen, wenn man nicht von Einzelbeispielen auf alle schließen und den Protest ernst nehmen würde, den russlanddeutsche Organisationen bereits vor der Bundestagswahl in einem offenen Brief zum Ausdruck gebracht hatten: „Wir sind nicht die AfD, nicht die CDU, nicht die fünfte Kolonne Putins! Wir sind genauso individuell, wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes!“. Pauschalisierungen helfen da nicht weiter. Sie stellen vielmehr ein bequemes Vorurteil dar, mit dem sich die Verantwortung für die AfD-Erfolge externalisieren lässt: Schuld sind immer die anderen, in diesem Fall die Russlanddeutschen.

Ganz gezielt wurden Stereotype von der AfD eingesetzt, um russlanddeutsche Wähler*innen für sich zu gewinnen. Die Botschaften unterschieden sich hierbei zunächst einmal nicht von der allgemeinen AfD-Programmatik: Rassismus, Islamfeindlichkeit und ein Spielen auf der Klaviatur völkischer Begrifflichkeiten. Eine spezifische Adressierung der Russlanddeutschen erfolgte vor allem über die Sprache: Die AfD verbreitete ihre Botschaften strategisch geschickt auch auf Russisch – von Anzeigen in russischsprachigen Medien in Deutschland über das soziale Netzwerk vk.com bis hin zu Wahlwerbespots im russischen Satellitenfernsehen.

Damit bediente sie einerseits die Zweisprachigkeit, die für diese Gruppe charakteristisch ist, und appellierte zugleich an die (Spät-)Aussiedler*innen als ‚wahre Deutsche‘. Hierbei wurden historische Stereotype aufgegriffen, die in russisch-nationalistischen Kreisen eine lange Tradition haben. So warb die AfD Hamburg mit diesem Plakat um Stimmen:

„Mit Tapferkeit für Deutschland und unsere Kinder. Ein ungewollter Gast ist schlimmer als ein Tatar. Für den Schutz unserer Grenzen und die Vertreibung der Islamisten!“ (Quelle: AfD Hamburg)

 

Neben dem grundsätzlichen Feindbild „Islam“ findet sich hier das Stereotyp des „Tatarenjochs“, mit dem die Zeit der mongolischen Herrschaft über die russischen Teilfürstentümer vom 13. – 15. Jahrhundert nach wie vor häufig beschrieben wird. Die Forschung hat längst gezeigt, dass diese Phase der russischen Geschichte keineswegs nur eine Zeit der Unterdrückung und ‚finsteren Fremdherrschaft‘ war, sondern ein System des „Divide et impera“, im Rahmen dessen vor allem das Großfürstentum Moskau seine Machtposition festigen und ausweiten konnte. Für die AfD-typische Konstruktion von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ spielen solche Differenzierungen jedoch keine Rolle, zu gut passt das Feindbild des „Tataren“ zur allgemeinen xenophoben Programmatik wie auch vermeintlich zur russlanddeutschen Klientel.

Jenseits dieser Losungen und dem Abhalten symbolträchtiger „Russland-Kongresse“ kümmert sich die AfD herzlich wenig um die konkreten Anliegen der Russlanddeutschen. Themen wie die Anerkennung von Berufsabschlüssen oder die Höhe der Altersbezüge – beides zentrale Punkte – sucht man sowohl in der Wahlkampagne der Partei wie auch in ihrem Programm vergebens. Stattdessen wird die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft gefordert, im Parteiprogramm noch um mögliche „wohlbegründete Ausnahmefälle“ eingeschränkt, im Antrag zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes dann ohne Ausnahmeregelungen, dafür aber in der Debatte im Plenum mit NS-Vokabular („Ein zur Regel entarteter Doppelpass untergräbt Staat und Demokratie.“) begründet. Abgesehen von dem erneuten und gezielten Tabubruch in der Terminologie, ist diese Initiative ganz sicher nicht im Sinne der Russlanddeutschen, von denen viele bis heute zwei Staatsbürgerschaften besitzen, die deutsche und die russische. Zu diesem Widerspruch findet sich im Antrag der AfD jedoch kein Wort.

Dessen ungeachtet stellt die AfD im neuen Bundestag, nach dem Ausscheiden von Heinrich Zertik (CDU), mit Anton Friesen und Waldemar Herdt die einzigen beiden russlanddeutschen Abgeordneten. Es ist somit davon auszugehen, dass die Partei den Anspruch für sich reklamieren wird, für die Russlanddeutschen in ihrer Gesamtheit zu sprechen. Will man dem nicht hilflos gegenüberstehen, wäre es gut, die Stereotype zu überwinden und sich des Themas in all seiner Komplexität anzunehmen. Es ist dringend geboten, dass auch die anderen Parteien mit den lange Zeit ‚unsichtbaren‘ (Spät-)Aussiedler*innen in einen Dialog treten – und zwar auf Russisch wie auf Deutsch. Voraussetzung hierfür wäre es, die Hybridität, die diese Menschen kennzeichnet, nicht als Makel, sondern als Chance zu begreifen. Mit Organisationen wie dem „Bundesverband russischsprachiger Eltern“ gibt es potentielle Kooperationspartner, die sich seit Jahren hierfür einsetzen und gegen Fremdenfeindlichkeit engagieren. Solche Initiativen zu stärken und den Menschen hinter den Verallgemeinerungen zuzuhören, wäre ein guter Ansatzpunkt, um der AfD-Propaganda von der ‚Partei der Russlanddeutschen‘ den Boden zu entziehen.

 

Weiterführende Literatur und Artikel

One thought on “Zwischen „Klein-Moskau“ und der „Alternative für Russlanddeutschland“”

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