von Christin Hansen

Wer kennt ihn nicht – den edlen Indianer, der hoch zu Pferd über die endlosen Weiten der Prärie streift, seinen Kopf stolz erhoben, die langen, tiefschwarzen Haare frei über die breiten Schultern fallend, mit der bezeichnenden Adlerfeder als Haarschmuck? Wer wollte beim Cowboy-und-Indianer-Spielen nicht Winnetou sein oder einer der tapferen Cowboys, der die barbarischen Indianer zur Rechenschaft zieht? Noch im Erwachsenenalter wird in zahlreichen Vereinen das angebliche Indianerleben zelebriert. Tatsächlich scheinen die Deutschen ein besonderes Verhältnis zur Figur des nordamerikanischen Indianers zu haben. Dabei waren die Deutschen nie eine Kolonialmacht auf dem nordamerikanischen Kontinent. Sicher, viele Statistiken verweisen noch heute gerne auf die hohe Prozentzahl der Amerikaner mit deutschen Vorfahren, aber was ist mit den Iren oder den Asiaten? Bei denen scheint die Begeisterung für „Indianer“ verschwindend gering im Vergleich zu den Deutschen.

 

Buchdeckel der klassischen Ausgaben (ab 1893): Winnetou I bis III von Karl May

 

Karl May hat mit seinen Schriften sicherlich seinen Anteil zu der bis heute anhaltenden Begeisterung beigetragen, nicht zuletzt auch durch die Winnetou-Filme in den 1960ern. Die Geburtsstunde des deutschen Indianers aber liegt deutlich vor Karl May. Es wäre sogar die Frage zu stellen, ob es Winnetou heute geben würde, wenn nicht deutsche Schriftsteller wie Charles Sealsfield (1793-1864), Friedrich Gerstäcker (1816-1872) oder Balduin Möllhausen (1825-1905) Karl May den Weg geebnet hätten. Doch worin liegt das außergewöhnliche Verhältnis begründet? Warum erliegen viele Deutsche noch heute der Faszination des vermeintlich edlen Indianers? Das komplizierte und seit fast 200 Jahren bestehende Verhältnis der Deutschen zum „Indianer“ lässt sich in aller Kürze natürlich nicht vollständig nachzeichnen. Die Geburtsstunde des Stereotyps aber lässt sich eindeutig im 19. Jahrhundert verorten.

 

Lederstrumpf führt durch den brennenden Wald

 

1824 erschien die erste deutsche Übersetzung des Romans „Die Ansiedler“ von James Fenimore Cooper aus der Lederstrumpf-Reihe. Mit ihm betraten die Figuren Chingachcook, Uncas und Lederstrumpf den deutschen Buchmarkt und sollten nicht nur ein gänzlich neues Indianerbild prägen, sondern gleichzeitig eine Leidenschaft entfachen, die bis heute anhält. Cooper schuf Grenzfiguren, die sich zwischen der Welt der Indianer und der Siedler bewegten: Lederstrumpf, der den Engen der Zivilisation entfliehen wollte und Chingachcook und Uncas als die letzten Edlen einer aussterbenden Rasse. Wiederholt stellen sie sich als brüderliche Gemeinschaft den barbarischen Wilden, welche nicht nur ihr Leben bedrohen, sondern auch das von befreundeten Siedlern – vor allem aber das von unschuldigen, jungfräulichen Mädchen und Frauen. Cooper schuf ambivalente Figuren, denen die vorandrängende Zivilisation die Lebensgrundlage entzog und mit deren Schicksal man mitfühlen konnte. Es wurden moralische Grundsätze, Werte und Normen anhand der Figuren des edlen Indianers, des barbarischen Indianers und des weißen Grenzgängers behandelt, wie beispielsweise Tapferkeit, Ehrlichkeit, Mäßigkeit, Rechtschaffenheit und Tugendhaftigkeit. Das traf nicht nur den Nerv des Lesepublikums, das voller fiktionaler Abenteuerlust war, sondern ermöglichte auch eine Form der Identitätsbildung – der Leser wollte selber den edlen Eigenschaften entgegenstreben, sich von den äußeren Zwängen befreien und sich gegen gewissen Formen der Obrigkeit auflehnen. Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bahnten sich politische und gesellschaftliche Unzufriedenheit und Unruhen ihren Weg: Beispielsweise stand die Frage der eigenen Identität und des Nationalbewusstseins im Raum. Es gab kein geeintes Deutschland und wie die Napoleonischen Kriege gezeigt hatten, konnte eine fremde Macht die eigene Heimat besetzen. Gleichzeitig hatte die Völkerschlacht bei Leipzig verdeutlicht, was ein Zusammenhalt der Deutschen zu leisten vermochte – so die zeitgenössische Perspektive. Viele forderten mehr Selbstbestimmung, eine Eindämmung der absolutistischen Macht und ein System, welches die gesamtdeutschen Interessen vertrat. Doch was war eigentlich gesamtdeutsch? Was war überhaupt deutsch? Die Fragen quälten zahlreiche intelligente Köpfe wie Ernst Moritz Arndt, Heinrich Heine oder Friedrich Ludwig Jahn in den deutschen Gebieten jener Zeit. Und in diesem Identitätsbildungsprozess lieferte das Stereotyp des Indianers für einige Leser eine Möglichkeit, die Frage einer deutschen Identität zu beantworten.

 

In den Schriften von Charles Sealsfield, Johannes Scherr, Friedrich Gerstäcker und Balduin Möllhausen etablierten sich Mitte des 19. Jahrhunderts drei Grundstereotypen des deutschen Indianers – der edle Indianer, der barbarische Indianer und der entartete Indianer. Alle drei konstituieren und bedingen sich gegenseitig und schufen so den deutschen Indianer. Als Beispiel sei hier der Aspekt des Alkoholismus angeführt. Der edle Indianer entsagt jeder Form des Alkoholtrinkens, da er über eine absolute Selbstbeherrschung verfügt und verfügen muss, um seine edlen Eigenschaften aufrecht halten zu können und außerdem weiß, dass der Alkohol den Geist einschränken würde. Er erkennt, dass das „Feuerwasser“ Gift für sein ursprüngliches, reines Wesen ist. Anders der entarte Indianer – er hat sich von den Siedlern derart negativ beeinflussen lassen, dass von der Ursprünglichkeit und Besinnung auf seine Volkstümlichkeit nichts mehr vorhanden ist, die einem edlen Charakter zugrunde liegen. Er ist in der Regel alkoholabhängig, legt keinerlei Wert auf seine Körperhygiene und um seinen Durst zu stillen, lässt er sich zu jeder Form von niederen Tätigkeiten herab, beziehungsweise stiehlt und raubt alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Der barbarische Indianer ist in der Regel der Handlanger von Gesetzlosen und erliegt seinen ungezügelten Trieben. Der Alkoholkonsum verstärkt seine Mordlust gegenüber braven Siedlern und führt zum Teil sogar zur Verstümmelung seiner selbst oder der Stammesgenossen. Er ist von Rache und Blutdurst getrieben, was ihn oftmals als dämonisch erscheinen lässt.

 

 

Es gilt also für den Leser hier der moralischen Festigkeit des edlen Charakters nachzueifern und Distanz zur barbarischen Version einzunehmen. Der entartete Indianer führt vor Augen, was passiert, wenn man sich nicht mehr auf seine Ursprünglichkeit und Volkstümlichkeit besinnt, sondern sich durch Fremdeinflüsse und Fremdherrschaft beeinflussen und bestimmen lässt. Es wird folglich an den Stereotypen des Indianers verhandelt, was erstrebenswerte Charaktereigenschaften sind, welche Bedeutung die Aufrechterhaltung von Volkstümlichkeit hat und wodurch ein Volk derart geschwächt wird, dass es zum Aussterben verurteilt ist. Es war Teilen der deutschen Gesellschaft möglich, sich mit der unbestimmten Situation des Indianers zu identifizieren und auszumachen, was notwendig war, um eine Einheit zu stiften, um stark gegenüber äußeren Einflüssen zu sein und sich auf die eigene Ursprünglichkeit einer deutschen Nation zu besinnen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass der Indianer im 19. Jahrhundert einen besonderen Stellenwert im kulturellen Gedächtnis erhielt, welcher bis heute anhält. Moralische Festigkeit, Rechtschaffenheit und Mäßigkeit sind heute sicherlich noch immer erstrebenswerte Eigenschaften zur Ausprägung einer individuellen Identität, aber ob sich die nationale Identitätsfrage tatsächlich auch heute noch an der Figur des Indianers verhandeln lässt, wäre als Frage in den Raum zu stellen. Was aber unbestreitbar ist, ist die Tatsache, dass die Faszination des deutschen Indianers bis heute ungebrochen ist, was nicht nur die große Anteilnahme am Tod des Winnetou-Darstellers Pierre Brice vor fast drei Jahren einmal mehr verdeutlich hat. Howgh, ich habe gesprochen!

 

Pierre Brice als Winnetou, Karl-May-Festspiele Elspe, ca. 1978. Foto: Elke Wetzig/CC-BY-SA
Romane und Reiseberichte

Charles Sealsfield: Der Legitime und die Republikaner. Eine Geschichte aus dem letzten amerikanisch-englischen Kriege. Drei Theile. Zürich: Orell, Füßli und Compagnie 1833

Johannes Scherr: Die Waise von Wien. Drei Bände. Stuttgart: Franckh‘schen Buchhandelung 1847;

Johannes Scherr: Die Pilger der Wildniß. Drei Bände. (Album. Bibliothek deutscher Originalromane der beliebtesten Schriftsteller) Tabor: Kober 1853

Friedrich Gerstäcker: Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nordamerikas. Paderborn: Salzwasser 2011. [Reproduktion des Originals 1844];

Friedrich Gerstäcker:: Die Regulatoren in Arkansas. Aus dem Waldleben Amerika’s. Leipzig: Otto Wigand 1846

Balduin Möllhausen: Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee. Leipzig: Hermann Mendelssohn 1858;

Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. Erzählung aus den Rheinlanden und dem Stromgebiet des Missouri. Vier Bände. Berlin: Otto Janke 1865

Weiterführende Literatur

Berkhofer, Robert F. Jr.: The White Man’s Indian. Images of the American Indian from Columbus to the Present, New York 1978.

Billington, Ray Allen: Land of Savagery, Land of Promise. The European Image of the American Frontier in the Nineteenth Century, Oklahoma 1985.

Bitterli, Urs: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991.

Bolz, Peter: Indianer und Deutsche: Eine klischeebeladene Beziehung, in: Bolz, Peter/ Senner, Hans-Ulrich (Hg.): Indianer Nordamerikas. Die Sammlungen des Ethnologischen Museums Berlin, Berlin 1999, S. 9-21.

Flint, Kate: The Transatlantic Indian 1776-1930, Princeton 2009.

Hansen, Christin: Die Konstruktion des deutschen Indianers, in: Bublies-Godau, Brigit Ellen/ Meyer, Anne-Rose (Hg.): Die USA im Vor- und Nachmärz. Imagologien in Politik – Literatur – Wissenschaft (Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 2017), Bielefeld [erscheint 2018].

Kohl, Karl-Heinz: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und der Erfahrung der Zivilisation, Berlin 1981.

Liebersohn, Harry: Aristocratic Encounters. European Travelers and North American Indians, Cambridge 2001.

Pakditawan, Sirinya: Das Bild des Indianers in den Werken von James Fenimore Cooper. Stereotypisierung und Individualisierung, Saarbrücken 2007.

Pearce, Roy Harvey: Rot und Weiss. Die Erfindung des Indianers durch die Zivilisation, Stuttgart 1991.

Penny, H. Glenn: Kindred by Choice. Germans and American Indians since 1800, Chapel Hill 2013.

Rodenberg, Hans-Peter: Der imaginierte Indianer. Zur Dynamik von Kulturkonflikt und Vergesellschaftung des Fremden, Frankfurt/ Main 1994.

Rossbacher, Karlheinz: Lederstrumpf in Deutschland. Zur Rezeption James Fenimore Coopers beim Leser der Restaurationszeit, München 1972.

Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/ Main 1985.

Usbeck, Frank: Fellow Tribesmen. The Image of Native Americans, National Identity and Nazi Ideology in Germany (Studies in German History, Vol. 19), New York/ Oxford 2015.

 

 

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