von Hans Henning Hahn

Die folgenden Überlegungen entstanden aus der Frage heraus, „ob der Zusatz ‚historisch‘ für die Stereotypenforschung wirklich notwendig“ sei – eine wohl zulässige Fragestellung für eine Arbeitsstelle Historische Stereotypenforschung.

Der Begriff ‚Stereotyp‘ in der heute üblichen Bedeutung wurde 1922 zum ersten Mal in diesem Sinne von Walter Lippmann öffentlich benutzt. Das kann aber nicht bedeuten, daß Stereotype erst seit 1922 existieren. Wie auch immer der Begriff im Detail definiert wird – es ist klar, daß Stereotype in menschlichen Gruppen von Menschen benutzt werde, seitdem sie sich in einer Umwelt orientieren müssen und in menschlichen Gruppen miteinander kommunizieren. Es scheint sich also um ein anthropologisches Phänomen zu handeln. Daraus ergibt sich, daß dieses Phänomen für alle modernen Sozial- und Kulturwissenschaften einen Gegenstand von Forschen und Nachdenken darstellt, also eine interdisziplinäre Dimension enthält.

Allgemein gesprochen handelt es sich bei der Stereotypenforschung um die Erforschung von kollektiver Selbstperzeption (Selbstwahrnehmung) und der Fremdperzeption, also der Wahrnehmung „der Anderen“. Es geht also um Alterität und Identität. Denn Forschungsobjekt ist eine spezifische Form des Binnen- und Außenverhaltens von Gesellschaften in Kommunikation und Abgrenzung, was aber die Frage einschließt, inwieweit diese „Form des Binnen- und Außenverhaltens“ Einfluß ausübt auf die Formierung und des Wandel einer Gesellschaft selbst. Letzteres betrifft Gruppen- und Identitätsbildung.

Wenn sich Historiker mit Stereotypen befassen, dann ergeben sich aus der Tatsache, daß es sich um in der Vergangenheit wirkende Stereotype handelt, spezifische Quellenprobleme, sind sie doch immer und überall abhängig davon, über entsprechende Quellen zu verfügen. Wir können Menschen, die wir als die Träger von Stereotypen ausmachen, nicht nach ihren Stereotypen und die damit verbundenen Emotionen befragen, denn im Normalfall leben sie nicht mehr. Als der Autor vor einigen Jahrzehnten auf einer von Soziologen ausgerichteten Stereotypenkonferenz in Bielefeld diese Schwierigkeit skizzierte, erklärte man ihm, dann könne er keine Stereotypenforschung betreiben, verbunden mit der Frage: warum er dies denn tue? Seine Antwort lautete: Weil er als Historiker das Wirken von Stereotypen in historischen Prozessen feststellen könne und der Ansicht sei, daß vieles, was in der Vergangenheit geschehen sei, ohne die Berücksichtigung der Wirksamkeit von Stereotypen nicht zulässig erklärt werden könne. Eine weitere Motivation, die damals noch nicht so formuliert wurde: Weil sich Historiker wenig Gedanken über das Wesen von Stereotypen und deren sozialer und mentaler Funktionalität Gedanken machten, begnügen sie sich oft mit der bloße Deskription, ja bleiben im Deskriptiven stecken, ohne weitere Fragen zu stellen.

Hier sollen nur kurz einige Bereiche skizziert werden, in denen Geschichte und Stereotype sich treffen bzw. miteinander korrelieren.

 

  1. Stereotype in der Geschichte.

Stereotype haben einzelne Individuen ebenso wie ein Gesellschaften, sie sind also sowohl ein individuelles als auch ein kollektives Phänomen. Das zweitgenannte Vorkommen von Stereotypen ist wissenschaftlich weit interessanter als das erste, und dabei interessieren uns vor allem Stereotype, wenn sie öffentlich kommuniziert werden und so in Gesellschaften wirken. Es geht also für Historiker um die Geschichte und Wirkung der Benutzung von Stereotypen: in welchen Medien werden sie verbreitet? wie werden sie eingesetzt? in welchen Situationen läßt sich eine Häufigkeit des Gebrauchs feststellen? wie und wann werden sie als bewußte Manipulationsinstrumente benutzt bzw. wann glauben wir von einem eher unbewußten Gebrauch von Stereotypen sprechen zu können? Wenn wir in historischen Quellen Stereotype vorfinden: Was für eine Bedeutung können wir ihnen in der konkreten Situation zuschreiben? Welche Funktion und Wirkung haben sie gehabt oder sollten sie für die Träger bzw. Benutzer und für die Empfänger der Stereotypen haben? Geht es um ein Instrument im politischen Kampf, oder eher um Stereotype als Bestandteile eines weltanschaulichen bzw. ideologischen Systems, oder eine quasi unreflektierte ‚Volksweisheit‘?

 

  1. Die Genese von Stereotypen

Stereotype haben eine doppelte Genese: zum einen eine individuelle Genese – dabei geht es um die Frage, wie einzelne Menschen dazu kommen, Stereotype zu benutzen bzw. stereotype Auffassungen zu haben. Zum anderen geht es um die kollektive Genese, also, wie Gesellschaften an Stereotype kommen, und zwar nicht nur generell, sondern wie bestimmte Stereotype in Gesellschaften entstehen, akzeptiert und verbreitet und damit wirksam werden. Dieser Punkt führt direkt zum 3. Bereich:

 

  1. Die Geschichte einzelner Stereotypen

Wie entsteht ein einzelnes Stereotyp und vor allem, wie verändert und wandelt es sich im Laufe der Geschichte? Historiker interessieren sich in diesem Bereich um den inhaltlichen und formalen Wandel – bis hin zum Wechsel des Signifikators: wenn z.B. das französische anti-englische Stereotyp „la perfide Albion“ aus dem Mittelalter im Ersten Weltkrieg ein deutsches anti-englisches Stereotyp wurde. Auch ohne solche krassen Fälle – Stereotype sind langdauernd existierende Phänomene, die aber nur scheinbar unwandelbar sind; in Wirklichkeit verändern sie sich unmerklich ständig, vor allem weil sich die Kontexte und damit die mentalen Bedürfnisse der Benutzer verändern. Solche Detailerforschungen einzelner Stereotypen widerlegen den Ewigkeitsanspruch von Stereotypen und damit die ‚stereotype‘ Vorstellung von ihrer Unwandelbarkeit – und darin besteht wohl eine der Hauptaufgaben der Geschichtswissenschaft zur generellen Stereotypenforschung, die oft die Historizität von Stereotypen übersieht und von deren Beständigkeit ausgeht.

 

  1. Geschichte in Stereotypen

Stereotype sind keine neutralen Feststellungen, sondern Werturteile von meist emotionaler Aufladung. Wenn sie gebraucht werden, geben sie sich zwar meist gegenwartsbezogen, benötigen und benutzen aber die Geschichte, indem sie die Vergangenheit in die stereotypisierte Perzeption der gegenwärtigen Welt miteinbeziehen. Die Geschichte dient zur Erklärung, Legitimierung, Rechtfertigung der Richtigkeit eines Stereotyps: „Die Anderen sind so, denn die Vergangenheit beweist, daß sie schon immer so waren“. Die Geschichte wird somit benutzt als riesiges Reservoir zur Rechtfertigung der Auto- und Heterostereotypen, also zur Rechtfertigung der eigenen jetzigen emotionalen Befindlichkeit, der Bedrohungsängste oder der Überlegenheitsgefühle. Geschichte ist also ein wichtiges Element im inneren Funktionsmechanismus von Stereotypen; stereotypisierte Geschichtsbilder macht sie erst glaubwürdig.

 

  1. Korrelationen von Geschichte und Stereotypen

Die Rolle von Stereotypen – als die Wahrnehmung modellierende Phänomene – und von Vergangenheit – als wichtigstes Element unserer Zeiterfahrung – führt zu einer beiderseitigen Korrelation, die diverse Funktionen im kollektiven Bewußtsein übernehmen. Das Zusammenspiel von Autostereotyp und Heterostereotyp führt unter anderem dazu, daß Stereotype gesellschaftlich eine integrierende und zugleich ausgrenzende Rolle spielen. Damit haben sie eine wichtige Funktion für die Bildung und Existenz sozialer Gruppen, in denen meist so etwas wie ein Stereotypenkonsens festzustellen ist. Das betrifft auch die Rolle nationaler Stereotypen für nation-building-processes.

Alle Nationalismusforscher sind sich einig, daß in den letztgenannten Prozessen, also den nation-building-processes, die gemeinsame Vergangenheit von höchster Relevanz ist, sogar bei einem so ungewöhnlichen Gebilde wie der Schweizerischen Nation. Bilder einer gemeinsamen Geschichte sind konstitutiv für nationales Wir-Bewußtsein. Oft beruft man sich dabei darauf, daß die nationale Gruppe über eine gemeinsame „hi­storische Erfahrung“ verfüge. Hier ist es wesentlich, ob darunter, also unter „Historischer Erfahrung“, ein abgeschlossene Erfahrung verstanden wird, also etwas, was man glaubt, definitiv zu ‚wissen‘, definitiv aus Geschichte gelernt zu haben, definitiv zu besitzen. Hier liegt die Nähe zum Stereotyp auf der Hand: Wir haben es in solchen Fällen mit festen Geschichtsbildern zu tun, jeder glaubt, endgültig, ja ‚objektiv‘ zu wissen, wie die Vergangenheit aussieht, welche Kontinuitäten man in ihr feststellen kann und vor allem, wie sie zu beurteilen und zu bewerten sei. Wenn sich aus solchen Geschichtsbildern eindeutige Identifikationen ergeben, dann werden Geschichtsbilder selbst zu Stereotypen. Davor sind, wie allseits festzustellen ist, auch Historiker nicht gefeit.

Der Zusammenhang zwischen Stereotypen und Geschichte ist also vielfältig. Dementsprechend breit gestalten sich die Möglichkeiten historischer Stereotypenforschung. Nicht jede Verallgemeinerung ist ein Stereotyp, nicht jede sprachliche Emotionalisierung ist ein Stereotyp, auch wenn beides zur Definition des Begriffs gehört, und nicht jede Stereotypenforschung ist historische Stereotypenforschung. In der Wissenschaft gilt es zu differenzieren, um genau zu sein.

Wenn es um den praktischen Nutzwert der Stereotypenforschung für die Gegenwart geht, dann sollten wir diskutieren, ob wir dazu unser Wissen über das allgemeine Funktionieren von Stereotypen in der Gesellschaft einbringen wollen, oder ob wir es für wichtig halten, ein Bewußtsein von ihrer Historizität und damit von ihrer Wandelbarkeit und Vergänglichkeit zu schaffen.